Ein Blick aufs Ganze
„Elke, gewöhnt man sich eigentlich an so einen Ausblick?“ fragte ich als wir eines Spätsommerabends, Brebiskäse mit Safranmarmelade essend den immer dunkler werdenden Umriss der Champagner-farbenen Pyrenäen beobachteten. „Nein“ erwiderte Sie nachdenklich. Ich antwortete nicht, dachte mir aber „gut“, denn alles andere hätte mich auch irgendwie enttäuscht. Wie sollte man sich auch an so einen „Ort der Blicke gewöhnen“? Da gibt es zum Beispiel den Ausblick aus meinem Zimmer direkt auf die Platane und den Eingang, der am Abend so lieblich gelb schimmert. Oder den Blick aus der Küchentür auf die Terrasse, wo der dunkelgraue Filou mit seinen sattgrünen Augen und der weiß, grau gefleckte Praline mal wieder vorwurfsvoll, miauend um punkt 18Uhr auf ihr Futter warten. Dann ist da noch die Sicht aus dem Atelier, direkt auf die Scheune, wo die im Wind flatternde Wäsche einem immer wieder einen kurzen Blick auf Tobis, unter dem kleinen Dach geparkte, blau, weiße Isetta erlaubt. Augenblicke gibt es hier aber auch viele. Der erste Blick am Morgen in Elkes Augen, während man fast intuitiv im Vorbeilaufen die Kaffee Maschine anmacht. Sophies verschlafene Augen, die bis tief in die Nacht an Uniprojekten arbeitete. Oder, Tobis, auf den Bildschirm fixierten Blick, wenn man die Bürotür öffnet. Am interessantesten sind aber die unvertrauten Blicke, die vielen unbeschriebenen Augenblicke, wenn man zu Beginn einer Denkwoche zehn Menschen zum ersten Mal in die Augen schaut. Zu beobachten wie einem auch fremde Blicke innerhalb von einer Woche vertraut vorkommen, sich diese am letzten Abendessen dann kreuzen, ineinander hängenbleiben und man sich kurz anlächelt. Weil man nach einer gemeinsamen Woche an diesem Ort weiß, wie erfüllend hier jeder Blick und Ausblick ist. Unvergleichliche Blicke gab es auch reichlich, beispielsweise an einem heißen September Tag auf den türkisblauen Atlantik an der Küste von Biarritz zu schauen und allein durch den Anblick erfrischt zu sein. Oder in den Pyrenäen, die am Straßenrand trabenden Pottoks zu beobachten und dabei lächelnd, „Wild Horses“ von den Rolling Stones vor sich her zu summen. Danach daran zu denken, dass man vor drei Monaten noch in seinem überhitzten Zimmer für das mündliche Abitur in Mathe lernte und wie sich das Leben innerhalb eines Augenblicks doch zum Guten wenden kann. Genauso wurden mir aber auch viele Einblicke gewährt, in die Kultur der Region, Elkes und Damiens Kochkunst, Tobis praktische Herangehensweise an Probleme und Sophies einfühlsamen Umgang mit allen Gästen. Natürlich nicht zu vergessen ist der letzte Blick bevor man abends, im Bett, die Augen schließt. Nochmal kurz die hölzerne Decke über sich anstarrt und einen auf einmal ein Übermaß an Dankbarkeit erfüllt, weil man sich darüber bewusst wird, dass man grade den Spätsommer in einem 400 Jahre alten Chateau in Südfrankreich verbringt. Irgendwann schließt man dann trotzdem die Augen, schläft ein und wacht voller Vorfreude darauf auf, welche Blicke man wohl heute erhaschen darf.
Bis zum nächsten Augenblick, auch wenn ich mich wohl nie an diese Schönheit gewöhnen werde.
Robert Gotthardt