Von der Kraft der Geschichten und dem Wandel durch Begegnung

Von der Kraft der Geschichten

Während die Landschaft in TGV-Geschwindigkeit an mir vorbeirast, versuche ich meine Erinnerungen an den vergangenen Monat im Château d’Orion zu entzerren. Im ersten Moment halte ich es für unmöglich diese Unmengen an Eindrücken und Begegnungen zu konzentrieren, bis mir auffällt, was sie alle verbindet: Die Kraft der Geschichten.

Das, was die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie in ihrem Vortrag „The danger of a single story“ betont, nämlich die Relevanz von facettenreichen Geschichten und unterschiedlichen Perspektiven, wird in Orion gelebt. Es vergeht kein gemeinsames Essen, ohne dass eine Anekdote sich ganz von selbst in das Gespräch einschleicht oder mit einer raffinierten Frage aus dem Gegenüber herausgekitzelt wird.

Egal ob sie mich amüsieren, mir die Kehle zuschnüren, oder zutiefst erschüttern – diese persönlichen Erzählungen lösen immer etwas in mir aus. Durch sie geben Menschen auf subtile Weise etwas ganz Besonderes von sich preis.

Und das fällt uns oft leichter, wenn wir uns selbst dafür entscheiden können, wie wir diese Anekdoten verpacken: Mal sind sie in bunt gemustertes Papier eingeschlagen, mal mit einer festen Schleife zusammengebunden, oder in Luftpolsterfolie gewickelt. Manchmal gibt die Verpackung einen Hinweis auf die Pointe, doch viel öfter werde ich überrascht.

Die Fähigkeit, sich überraschen lassen zu können, begegnet mir in meinem Alltag immer seltener. Denn Voraussetzungen dafür sind die Offenheit für Unbekanntes und Geduld, beides Tugenden, die uns zu aktiven Zuhörenden machen. Während digitale Kommunikation, Informationsüberflutung, Multitasking und Zeitdruck mich zunehmend beeinflussen, habe ich durch meine Begegnungen in Orion Zugang zu einer entschleunigten Gesprächskultur gefunden: In der es nicht vorrangig um den effektivsten Informationsaustausch geht, sondern stattdessen um die Kraft der Geschichten.

Diese Kraft haben leider auch viele RechtspopulistInnen, die erfolgreich diskriminierende Narrative verbreiten, für sich entdeckt. Denn Geschichten können ebenso vermeintlich einfache Lösungen präsentieren, die kulturelle Identitäten nähren und Sündenböcke identifizieren. Dass diese Rhetorik in Zeiten multipler Krisen besonders wirkungsvoll ist, wundert mich nicht. Was mich wundert, ist meine eigene Zurückhaltung Erzählungen zu verbreiten, die dagegenhalten. Denn Narrative bieten eine kohärente Struktur für unsere Wahrnehmung der Welt und beeinflussen, wie wir unsere Umgebung und die Menschen darin verstehen. Auch Chimamanda Ngozi Adichie bestätigt, dass wir mehrdimensionale Geschichten brauchen, um ein umfassendes Verständnis von komplexen gesellschaftlichen Problemen zu fördern und Vorurteile abzubauen.

Die Begegnungen im Château haben mir vor allem eine mehrdimensionale Sicht auf Lebenswege geschenkt. Indem Menschen mir ihre kleinen und großen Geschichten anvertraut haben. Die fast immer von Irrwegen, Unsicherheiten und Verlusten geprägt waren – aber gerade dadurch interessant wurden. Sie haben es geschafft meine Definition von Erfolg in Frage zu stellen und mich dazu ermutigt meine Geschichte ohne Druck weiterzuschreiben.

Noch weiß ich nicht, wo sie enden wird, doch der Samen der Oriontation ist gesät.

Eine Reflexion des Praktikums von Lina Scheidt

Vom Wandel durch Begegnung

Die Denkwoche „Wandel durch Begegnung – Die Sehnsucht nach Nähe und der Wunsch nach Distanz: Ein menschliches Zwischenspiel“ angeleitet von Ina Schmidt war eine sehr inspirierende Denkwoche, die mir viele neue Denkanstöße zu den Themen Freundschaft, Liebe, Selbstkenntnis und Verantwortung, geliefert hat. Zu Beginn der Woche untersuchten wir, was philosophisches Denken bedeuten kann. Besonders ist mir dabei die Definition des ehemaligen Chefredakteurs des Magazins Hohe Luft, Thomas Vasek, im Kopf geblieben, der Philosophie als „den tastenden Versuch, sich aus der eigenen Unsicherheit herauszuarbeiten“ definiert.

Im Anschluss widmeten wir uns dem Thema der Woche – der Begegnung. Ein Zusammentreffen wird zu einer Begegnung, wenn das Individuum anders aus ihr hervorgeht, als es reingegangen ist. Unter anderem wurde sie definiert als ein „Erkennen, Verstehen und Beantworten eines „Du“ durch ein „Ich“, das auf das eingeht, was den Anderen und ihn selbst bewegt und daher ein gemeinsames Thema ist.“ Diese Definition hat sehr mit mir räsoniert, weil sie darauf hinweist, dass man sich auch durch den Spiegel, den andere einem hinhalten, kennenlernen kann. So sagt der Philosoph Charles Pépin: „Ich muss anderen begegnen, um ich selbst zu werden.“ Wir untersuchten unterschiedliche Arten der Begegnung – als Anfang, als Möglichkeit oder als Voraussetzung für ein Drittes – und das, was sie gemein haben: Den Wunsch nach Übereinstimmung. Mit den Worten Hartmut Rosas: Den Wunsch nach Resonanz. Rosa geht jedoch davon aus, dass sich das Individuum in der modernen Gesellschaft, geprägt von Beschleunigung, Entfremdung und Distanz, die Möglichkeit für Resonanzerfahrungen verbaut. Das Individuum kann die Resonanzerfahrung nicht zwangsläufig herbeiführen, es kann jedoch die Wahrscheinlichkeit des Eintritts erhöhen. Dazu muss es sich „hörenden Herzens“ auf Begegnungen einlassen. Das bedeutet, sensibel und aufmerksam der Welt und anderen zuhören und sich dabei auf eine tiefe und authentische Weise mit der Welt und anderen Menschen zu verbinden.

Am zweiten Tag näherten wir uns am Beispiel der Schopenhauer’schen Parabel über die Stachelschweine, der Frage wieviel Nähe und Distanz wir brauchen und wie man den richtigen Abstand für sich herausfindet. Wir diskutierten darüber, an welchen Orten wir diese Nähe heutzutage finden können und wie sich Begegnungsräume durch neue Lebensformen und technische Möglichkeiten verschoben haben, von der früheren Wirtshauskultur in den digitalen Raum. Wir untersuchten zudem, wie sich Begegnungen zu Freundschaften entwickeln und was eine Freundschaft ausmacht. Dabei nahmen wir unterschiedliche Arten der Freundschaft unter die Lupe und untersuchten anhand von Georg Simmels Begriff der „differenzierten Freundschaft“, wie sich der traditionelle Freundschaftsbegriff in der Moderne gewandelt hat. Simmel geht davon aus, dass Freundschaften in der modernen städtischen Gesellschaft nichtmehr ausschließlich auf traditionellen, homogenen sozialen Bindungen basieren, sondern dass sie sich durch eine größere Vielfalt auszeichnet, unterschiedliche soziale Hintergründe, Interessen, Berufe und Lebensstile. Das macht diese Beziehungen jedoch nicht weniger bedeutsam. Montaigne beschreibt sie als „die schönste Form der Liebe“.

Nach einem Ausflugstag nach Peyrehorade und Bayonne, widmeten wir uns am vierten Tag der Begegnung mit dem Selbst. Die Stunde wurde eröffnet mit einer Frage, die Max Frisch in seinem Fragebogen stellt: „Sind Sie sich selbst ein guter Freund?“. Dazu diskutierten wir zunächst darüber, was das Selbst ist und inwiefern es sich vom „Ich“ und der Identität unterscheidet. Wir diskutierten darüber, wieviel Veränderung das Selbst bzw. die Vorstellung eines Selbstkonzepts erträgt und wie wahrheitsgetreu unser Selbstbild ist. Im Zuge dessen untersuchten wir die Philosophischen Selbstpraktiken, die Michel Foucaults als die Grundbedingung für ein Leben innerer Freiheit sieht. Diese setzen sich auf dem Vierklang Bewegung, Ernährung (auch geistiger Nahrung), Lektüre und Auslebung des Mottos „Sei gut zu Dir“, zusammen. Im Anschluss malten wir Bilder von unserem Selbst. Der Mut und die Offenheit der TeilnehmerInnen war sehr inspirierend und hat tiefe Einblicke in ihre Selbstwahrnehmung gegeben. Dieses Selbstbild wurde dann im Austausch mit einem Gegenüber mit dem Fremdbild abgeglichen. Diese Übung hat sehr eindrücklich gezeigt, dass es schön und wichtig ist, sich selbst im Austausch und in Verbundenheit mit anderen kennenzulernen.

Am letzten Tag widmeten wir uns der Frage, wie wir von den theoretischen Einsichten zu konkreten Handlungsmöglichkeiten gelangen können. Denn die Philosophie des Handelns besagt, das man zunächst (i) In-sich- Gehen, dann (ii) Aus-sich-heraus-gehen und zuletzt (iii) Auf den anderen zugehen solle. Dazu untersuchten wir notwendige Grundregeln für eine dialogisches Miteinander, vor allem in Begegnungen, in denen Unterschiede ausgehalten werden müssen. Nach David Bohm beziehen sich die dialogischen Fähigkeiten auf (i) Wahrnehmen (von Differenzen), (ii) Aktives Zuhören und „Suspension“, (iii) Sprechen und untersuchendes Fragen. Wichtig ist dabei zu lernen, die eigene Meinung im Zuhören zunächst zurückzustellen und den inneren Kommentator ruhigzustellen. Schließlich widmeten wir uns anhand von Hans Jonas „Prinzip der Verantwortung“ der Frage, wie wir der Zukunft begegnen können und wie wir Räume schaffen können, in denen wir uns dieses Gegenüber vorstellen lernen können.

Ich habe aus dieser Denkwoche viele Impulse mitnehmen können, sowohl theoretisch als auch praktisch. Besonders prägend waren für mich zwei Erkenntnisse. Zunächst, dass wir uns in Begegnung mit anderen kennenlernen können und müssen und, dass wir als Individuum Handlungsmacht haben. Wir können entscheiden, ob wir „hörenden Herzens“ auf andere zugehen, oder uns der Schnelllebigkeit der modernen Gesellschaft hingeben und nicht in Resonanz mit unserer Umwelt gehen. Daher möchte ich mir in Zukunft beibehalten, alle Menschen in der Bahn und auf den Straßen Berlins in der Novembertristesse anzulächeln, um die Möglichkeit von Resonanzerfahrungen zu erhöhen.

Ein Bericht zur Denkwoche von Lilly Schröder

Tobias Premauer