Selbsterkenntnis für Mutige - Lebensnahes Philosophieren

Was heißt es, mutig im Umgang mit sich selbst und den eigenen Handlungen zu sein? Wie kann der Mensch, der zur Selbstreflexion befähigt ist, mit den hieraus resultierenden Möglichkeiten und Verantwortungen umgehen?

In der Denkwoche ‚Selbsterkenntnis für Mutige‘ mit Heidemarie Bennent-Vahle und Ute Gahlings haben wir uns getraut, die Grenzen, Ethiken, Erfordernisse und Chancen der Selbstreflexion zu hinterfragen und in ein lebensnahes Philosophieren zu übertragen. Die Frage, die wir uns stellten, war: Wie ist Selbsterkenntnis möglich und welche Schwierigkeiten ergeben sich hierbei insbesondere in der gegenwärtigen Gesellschaft?

Ein ganz zentraler Aspekt war hierbei, dass Selbsterkenntnis kein Prozess reinen Denkens ist, wie sie in der Philosophie häufig beschrieben wird. Erkenntnis geht nicht nur in unseren Köpfen vonstatten, wo sie sich im intellektuellen Monolog vollzieht. Vielmehr scheint die westliche Philosophie einige Aspekte des Denkens und des erkennenden Subjekts in ihrer Tradition verdrängt zu haben, allen voran die Rollen des Körpers, der Emotionen und der Einbettung in die Umwelt. Diese drei Aspekte sind jedoch entscheidend für eine ganzheitliche Sicht auf das Individuum und seine Möglichkeiten auf (Selbst-) Erkenntnis.

Die Ursprünge der Trennung zwischen Geist und Körper finden sich bereits in Platons Höhlengleichnis, wo die sinnliche und die geistige Erkenntnis voneinander abgespalten und hierarchisiert werden. Die sinnliche Erfahrung wurde so zur Vorstufe wahrer Erkenntnis degradiert und Ziel der Philosophie sollte es nunmehr sein, die Wahrheit hinter dem sinnlich Wahrnehmbaren zu erkennen. Aber auch wenn Erkenntnis sicherlich ein denkender Prozess ist, so zeigen Philosophen wie Hermann Schmitz und Gernot Böhme, dass es durchaus körperliche Bedingungen von Erkenntnis gibt. Die Verortung unseres Körpers und die Wahrnehmung unserer Sinne sind unverzichtbare Grundbedingungen jeglicher Erkenntnis. Und hierdurch ist unser Wissen selbst auch immer verortet oder situiert.

Auch Emotionen wurden ebenso wie die Körperlichkeit von Erkenntnis in der Philosophietradition häufig nur beiläufig erwähnt oder als Gegenstand gar abgelehnt. Gefühle galt es spätestens seit der Aufklärung zugunsten des rationalen Denkens im Zaum zu halten und bereits die christliche Tugendlehre der Selbstsorge durch Askese und die Kontrolle des Selbst hat Gefühle abgewertet und als unbrauchbar für die Gestaltung eines gelingenden Lebens gesehen. Dabei erscheinen unsere Gefühle ein grundlegender Faktor für die Orientierung und Entscheidungsfindung zu sein. Woher soll der Antrieb aus uns herauskommen, wenn nicht aus unserer Überzeugung und Zielen, die wir mit Elan verfolgen?

Und bei der Frage nach dem Wofür unseres Handelns tritt auch unsere soziale Einbettung hervor, denn gerade in der Moderne mit ihrer starken Forderung nach Autonomie und Individualisierung wird Vielen bewusst, wie wichtig unsere Mitmenschen für eine sinnstiftende und beglückende Lebensführung sind. Die räumliche wie soziale Umwelt stellt nicht einfach einen einschränkenden Faktor für die individuelle Selbstverwirklichung dar, sondern ist vielmehr fähig, uns Halt und Orientierung zu schenken. Dass unsere Eingebettetheit in die Welt überhaupt erst infrage gestellt wird, scheint ein Ergebnis der enormen Autonomieansprüche an das moderne Subjekt zu sein. Als körperliche und denkende Wesen werden wir in das Leben hineingeworfen und gewiss ist Vieles für uns vorbestimmt. Aber anstatt dies grundsätzlich abzulehnen, scheint gerade die Reflexion dieser Einschränkungen zentral zu sein. Wer hingegen seine eigenen Grenzen nicht anerkennen kann und gegen diese anzukämpfen versucht, wird sich im Zweifelsfall erschöpft und resigniert zurückziehen. Die Kunst des lebensnahen Philosophierens wäre es dann, sich innerhalb dieser Grenzen der Spielräume bewusst zu werden, die sich für jede:n von uns ergeben und anzuerkennen, wie wertvoll es ist, von der Umwelt wortwörtlich getragen und von unserem Umfeld aufgefangen zu werden. Wir sind nicht so auf unser Selbst zurückgeworfen, wie es die moderne Philosophie ebenso wie die sie umgebende Kultur und Ökonomie häufig vermitteln.

Was heißt es nun, wahrlich mutig zu sein in Bezug auf den Umgang mit uns selbst? Und wie erkennen wir, ob wir uns am Ende nicht doch nur der bequemen Selbsttäuschung hingeben?

Unsere Fähigkeit zur Reflexion ist das, was uns als Menschen ausmacht, aber auch was unsere grundsätzliche Gebrochenheit verursacht. Einen Umgang mit diesem Zwiespalt zwischen erfahrendem und erkennendem Individuum zu finden, bleibt eine lebenslange Aufgabe. Anstatt dies jedoch zu problematisieren, sollten wir vielmehr erkennen, welches Potenzial zur Selbsterkenntnis in jener Spannung enthalten ist. Es bleibt uns frei, unser Handeln jederzeit zu reflektieren und zukünftig zu ändern.

Unsere Eingebettetheit in verschiedene Lebensumwelten verweist zudem auf den Umstand, dass wir nicht nach dem authentischen Selbst suchen sollten, welches es – entgegen der Forderungen zeitgenössischer Ratgeberkultur – letztlich nie geben kann, sondern dass es unsere Aufgabe ist, die verschiedenen Rollen aus verschiedenen Umwelten und Situationen miteinander zu vereinen. Das Selbst erscheint so als performative oder orchestrierende Instanz.

Selbsttäuschung lässt sich nicht grundsätzlich verhindern. Es wäre eine Fehlannahme zu glauben, wir könnten hundertprozentig ehrlich mit uns selbst sein – alleine durch die Unterworfenheit unseres Denkens unter die eigenen Konstrukte ist eine zumindest sanfte Form der Selbsttäuschung unvermeidlich. Aber wichtig ist vielmehr, sich die destruktiven Seiten bewusst zu machen und diese hinterfragen zu können.

Der komplizierteste Selbstbetrug der Moderne mag wohl das Versprechen der absoluten Autonomie des Individuums zu sein. Nicht nur ist unser Selbst an unseren Körper, unsere Sinneswahrnehmung, unsere Mitmenschen und unsere räumliche Verortung gebunden. Noch wichtiger ist wohl die Erkenntnis, dass eine stetig wachsende Anzahl an Möglichkeiten im Alltag wie in der Lebensgestaltung nicht zwangsläufig einen Zuwachs an Freiheit bedeutet. Stattdessen resultiert jene Möglichkeitsmaximierung viel häufiger in einer lähmenden Überforderung und Orientierungslosigkeit des Selbst. Es kann ungemein befreiend sein, sich aus Überzeugung für eine Sache zu entscheiden, anstatt entlang rationaler Gründe die Vielzahl an Alternativen durchzudenken und abzuwägen.

Ganz allgemein geht es bei mutiger Selbsterkenntnis wohl darum, seine eigene Position im Spannungsfeld zwischen Fremd- und Selbstbestimmung zu finden. Was kann ich ändern und was nicht? Wo bin ich vielleicht eingeschränkt in meinen Möglichkeiten, aber hierdurch aufgefangen von meiner Umwelt? Entgegen der Steigerungslogiken der Moderne, die zur Optimierung des Selbst zum Selbstzweck aufrufen, scheinen es vielmehr die Orientierung des Selbst an seiner Umgebung und das (Wieder-)Erlernen des Mitgefühls mit anderen zu sein, welches eine stabile und sinnstiftende Welt- und Selbstbeziehung ermöglichen. Vielleicht ist die mutigste Selbsterkenntnis manchmal jene, sich seiner eigenen Geworfenheit bewusst zu werden und mit Gelassenheit auf seine Fähigkeit zur Selbsterkenntnis und die Eingebettetheit in die Welt zu vertrauen.

Die Denkwoche hat gezeigt, dass Philosophie eine wichtige Perspektive zur Reflexion und Arbeit am Selbst sein kann, da diese ohne die Individualitäts- und Subjektivierungszwänge der Psychotherapie auskommt und stattdessen bei individuellen Fragen und Problemen durch ihren allgemeinen Blick Anschluss und Gemeinschaft bieten kann.

 

Ich danke dem Freundeskreis des Château d’Orion e.V., dass er mir die Teilnahme an der Denkwoche ermöglicht hat!

 

Chiara Welter

Praktikantin und Stipendiatin