Der Ursprung des Bösen – Eine radikale oder banale Frage?

Die Frage nach dem Bösen beschäftigt die Menschen seit Anbeginn ihrer Zeit. Stets haben sie auf unterschiedliche Weise versucht, den Ursprung des Bösen zu erkunden. Für die Christen war es Gott, der Adam und Eva dafür strafte, vom Baum der Erkenntnis gegessen zu haben. In der griechischen Mythologie spricht man von einer geheimnisvollen Büchse. Pandora öffnete diese und entließ damit alle Übel in die Welt.

Insbesondere für die Christen stellte das Böse ein großes Problem dar. Wenn Gott allgütig und allmächtig war, wie konnte er dann zulassen, dass es das Böse in der Welt gab? Voltaire hatte für dieses Problem eine gute Antwort: Gott hat mit den Kategorien gut und böse überhaupt nichts zu tun. Das Böse ist keine Strafe eines irgendwie gearteten Gottes. Es entsteht allein durch die Menschen und spielt sich ausschließlich zwischen ihnen ab. Woher aber kommt der Trieb des Bösen im Menschen? Ist er von Natur aus böse oder führen erst äußere Umstände dazu, dass ein geheimer Trieb zum Bösen im Menschen erwacht?

Kant zum Beispiel bezeichnet das Böse als ein Radikales. Das Böse sei ein Gattungsmerkmal des Menschen. Ihm zufolge ist damit allen Menschen ein Hang zum Bösen angeboren. Gleichzeitig sei die Natur aber nicht schuld am Bösen. Schließlich sprechen wir erst dann von bösen Handlungen, wenn sich ein Mensch freiwillig für eine böse Handlung entscheidet. Dann also, wenn wir einen Menschen vor uns haben, der tatsächlich zur Verantwortung herangezogen werden kann. Laut Kant ist nicht die Natur des Menschen ausschlaggebend für die Übel in der Welt, sondern die Freiheit, mit der die Natur den Menschen ausgestattet hat. Es ist unsere Freiheit, die uns in die Lage versetzt, uns gegen das Gute und für das Böse zu entscheiden. Wir können Kant zufolge zwar keine Letztbegründung dafür angeben, warum genau wir uns in einigen Fällen für das Böse entscheiden. Die bloße Erfahrung dieser Freiheit oder vielmehr der Willkür mag uns aber möglicherweise dazu motivieren.

Für Kant ist der Mensch jedoch nicht durch und durch böse. Er hat einen Hang zum Bösen, gleichzeitig aber auch die Anlage zum Guten. Die Natur hat uns nämlich nicht nur mit Freiheit, sondern auch mit Vernunft ausgestattet und es sind diese beiden – unsere Vernunft und unsere Freiheit oder auch Autonomie – die uns in die Lage versetzen, uns über Neigungen, Triebe und einen Hang zum Bösen hinwegzusetzen. Das Gute in uns auszubilden, ist für uns Menschen keineswegs ein einfaches Geschäft. Reine Vernunftwesen, beispielsweise Engel, streben laut Kant immer und automatisch nach dem Guten. Wir hingegen müssen uns durchaus etwas dazu zwingen, und zwar mit Hilfe von Gesetzen. Diese sollen sicherstellen, dass wir auch wirklich gut handeln. Im Idealfall führen sie sogar dazu, dass das Böse ganz aus der Welt verschwindet. Kant ist Optimist und geht davon aus, dass dies tatsächlich möglich sei – dann nämlich, wenn jeder von seiner Vernunft Gebrauch macht und den Kategorischen Imperativ befolgt.

Kant schreibt keine Gesetzestexte, die wir in verschiedenen Situationen wälzen können, um herauszufinden, was an dieser Stelle gut und geboten bzw. schlecht und verboten wäre. Er sagt, es gäbe lediglich ein Gesetz, den Kategorischen Imperativ, welcher uns in die Lage versetzt, autonom konkrete Pflichten abzuleiten. Wenn wir uns fragen, ob eine bestimmte Handlung, z.B. Lügen, moralisch richtig oder falsch ist, dann sollen wir uns fragen, ob diese Handlung bzw. die Maxime, die dieser Handlung zugrunde liegt, als ein allgemeines Gesetz gedacht werden kann. Im Falle des Lügens würde die Anwendung des Kategorischen Imperativs also folgendermaßen ablaufen: Wir stellen uns vor, es sei ein allgemeines Gesetz, dass man, wenn man sich z.B. einen Vorteil davon erhofft, lügen darf. Diese Vorstellung führt laut Kant zu einem logischen Widerspruch. Allein mit Hilfe meiner Vernunft muss ich nämlich Folgendes feststellen: Ein solches Gesetz würde dazu führen, dass sich die gesamte Institution des Lügens und gleichzeitig des Versprechens automatisch aufhebt. Wenn wir stets alle darum wüssten, dass uns unser Gegenüber prinzipiell auch anlügen kann, funktioniert sowohl das Lügen als auch die Sache mit dem Vertrauen nicht mehr. Daraus folgt für Kant, dass das Lügen unter keinen Umständen moralisch richtig und damit gut sein kann.

Wenn wir erkennen können, was gut und was böse ist, dann sollen wir auch so handeln. In einer idealen Welt mag dies funktionieren. Es ist jedoch offensichtlich, dass wir – obwohl wir alle mehr oder weniger Vernunft besitzen – nicht immer gut handeln. Schlägt Kants Vorschlag zur Vermeidung des Bösen also fehl?

Hannah Arendt greift Kants Rede von der Radikalität des Bösen auf. Sie verwendet den Ausdruck „radikal“ jedoch auf andere Weise. „Radikal“ bedeutet bei ihr nicht, dass das Böse ein Gattungsmerkmal des Menschen ist – und damit tief in der Natur des Menschen verwurzelt – sondern, dass das Böse ungeahnte, verheerende Auswirkungen haben kann. Der Holocaust war für Arendt ein Beispiel für das radikal Böse. Er stellte sie vor ein großes Rätsel: Wie konnte das passieren? Was befähigt Menschen, derart Böses zu tun? Der Fall Adolf Eichmann zwang sie zu einer näheren Auseinandersetzung mit dieser Frage und ließ sie die Rede vom radikalen Bösen in ihr Gegenteil verkehren. Am Ende der Prozesse in Israel, an denen sie teilnahm und über die sie berichtete, kam sie nämlich zu folgendem Schluss: Das Böse ist keineswegs radikal, sondern vielmehr banal. Es ist eigentlich gar nichts Außergewöhnliches, Dämonisches, sondern etwas ganz Alltägliches. Schon das Auftreten Eichmanns beeinflusste sie in ihrer Meinung. Eingesperrt im Glaskasten, mit Schnupfen, sprach er in einer derart bürokratischen Sprache, dass man sich fragen musste, ob sie überhaupt seinem eigenen Mund entsprangen. Es war jedoch auch Eichmanns Berufung auf Kant, die Arendts These der Banalität des Bösen prägte.

Eichmann behauptete während und nach der Prozesse, er habe die Kantsche Norm stets zum Orientierungspunkt seines Handelns erhoben. Dabei bezieht er sich auf Kants Pflichtbegriff und auch auf den Kategorischen Imperativ. Er sagt nämlich erstens, stets rechtmäßig, gewissenhaft und damit aus Pflicht gehandelt zu haben und zweitens, dass er den Kategorischen Imperativ durchaus angewendet habe. Beide Aussagen sind problematisch. Arendt bezeichnet Eichmanns Version des Kategorischen Imperativs als den Kategorischen Imperativ für den Hausgebrauch des kleinen Mannes – als etwas, was man sich jederzeit nach eigenem Bedarf und Belieben zurechtbiegen kann. Der Kategorische Imperativ für den Hausgebrauch des kleinen Mannes lautete nämlich folgendermaßen: Handle stets so, dass der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde.

Eichmanns Berufung auf Kant stößt unangenehm auf. Nicht nur ist es empörend, dass er sich im Zuge der Rechtfertigung seiner grauenvollen Taten auf einen der Moralphilosophen schlechthin bezieht, sondern auch, dass er keine Scheu davor hat, Kant seine Worte im Mund regelrecht zu verdrehen. Es ist richtig, dass Eichmann in gewissem Sinne aus Pflicht handelte. Er handelte nicht aus persönlichen Neigungen heraus – wobei sich auch dies im Nachhinein als falsch herausstellte, war er doch auch überzeugter Antisemit – sondern aus Achtung vor dem Gesetz. Dieses Gesetz aber ist keineswegs das Gesetz, das Kant vor Augen hat. Im Falle Eichmanns ist das Gesetz der Befehl des Führers, wohingegen Kant von einem Gesetz spricht, das unserer eigenen Vernunft entspringt. Während Kant uns also eigentlich dazu auffordert, über unser Handeln nachzudenken, handelt Eichmann aus blindem Gehorsam.

Handeln aus blindem Gehorsam ist für Arendt nicht nur spezifisch für den Fall Eichmann, sondern für das gesamte Nazi-Regime. Das ganze System war darauf ausgelegt, eigenständiges Nachdenken auszulöschen und die Menschen zu bloßen „Rädchen im Getriebe“ zu machen. Jeder führte also einfach nur noch aus, was von oben befohlen wurde. Darin liegt für Arendt die Banalität des Bösen. Man muss kein Teufel sein, um derart böse zu handeln. Es reicht, ein einfacher Beamter zu sein. Das banale Böse kommt in die Welt, weil Menschen aufhören, Gebrauch von ihrer Vernunft zu machen. Eichmann war also gerade deshalb böse, weil er eben nicht Kants Ethik beherzigte.

Arendts Bestimmung des banalen Bösen geht jedoch noch darüber hinaus. Selbst wenn Eichmann den Kategorischen Imperativ richtig angewendet und damit seine grauenvollen Taten unterlassen hätte, wäre Arendt gewissermaßen unzufrieden gewesen. Wenn wir uns nämlich vorstellen würden, Eichmann säße uns gegenüber und liefere uns seine Kantsche Begründung für das Unterlassen der grauenvollen Taten, dann würde uns daran etwas gewaltig stören, vielleicht sogar schockieren: Wie kann man angesichts einer Entscheidung für oder gegen das millionenfache Töten unschuldiger Menschen derart rationale Überlegungen anstellen? Wir wären empört, entsetzt und derartige Gefühle würden wir auch von dem uns gegenübersitzenden Eichmann erwarten. Ein Mensch, der tatsächlich den Kategorischen Imperativ benötigt, um herauszufinden, was in dieser Situation geboten oder verboten ist, erscheint uns fast schon unmenschlich. Das banale Böse besteht also nicht nur darin, dass wir aufhören, von unserer Vernunft Gebrauch zu machen. Es entsteht auch, weil wir jegliche moralische Gefühle in uns zum Schweigen bringen. Noch stärker ausgedrückt: Das banale Böse kommt in die Welt, weil Menschen aufhören, Personen zu sein. Zu Nicht-Personen werden wir laut Arendt, weil wir aufhören, ein Gespräch mit uns selbst zu führen. Wir hören auf uns zu fragen, ob wir mit einem solchen Menschen – uns selbst – unter einem Dach wohnen können.

Arendts Vorschlag dafür, wie das Böse zu vermieden werden kann, sieht daher anders aus. Ihr schwebt kein Kategorischer Imperativ vor, sondern ein Sokratisches Zwiegespräch. Sokrates sagt nämlich: „Es ist besser, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun.“ Arendt stimmt zu, denn „wenn ich Unrecht tue, bin ich dazu verdammt, in unerträglicher Intimität mit einem Unrechttuenden zusammenzuleben; ich kann ihn nie loswerden“. Ich muss kein logisches Verfahren anwenden, um zu wissen, was richtig und falsch ist. Ich muss mich lediglich fragen, ob ich mit einer solchen Tat leben kann. Und so einfach dieses Verfahren und diese Frage scheint, so schwierig ist es, es jederzeit anzuwenden. Es involviert meine ganze Person und fordert von mir, dass ich im Gespräch mit mir selbst in die Tiefe gehe. In diesem Sinne ist das Böse banal: Es ist schnell getan, ich muss nicht groß überlegen. Das Gute anzustreben aber ist anstrengend und fordert viel. So sagt Arendt:

„Das Böse ist immer nur extrem, aber niemals radikal. Es hat keine Tiefe, keine Dämonie. Tief aber und radikal ist immer nur das Gute.“

Diese These lässt sich durchaus kritisieren, scheint es doch auch Fälle zu geben, in denen Menschen durchaus ganz bewusst über eine böse Tat nachdenken, diese ausführen und ganz einfach keine negativen moralische Gefühle dabei empfinden. Dennoch gibt auch Arendt uns Grund zur Hoffnung. Wenn das Böse eben gerade nicht radikal, sondern eigentlich banal ist, dann sollte es auch zu bekämpfen sein.

Kants Kategorischer Imperativ hat den Vorteil, dass er absolute Notwenigkeit mit sich bringt. Er ist eben gerade nicht abhängig von einer persönlichen Befindlichkeit, sondern gilt allgemein für jeden von uns. Arendts Sokratisches Zwiegespräch hat den Vorteil, dass es alltagsnäher, menschlicher ist, weil es nicht nur unsere Vernunft, sondern auch unser moralisches Empfinden und damit moralische Gefühle (etwa Empörung, Entsetzen, Grauen, Abscheu, etc.) integriert. Es ist jedoch auf andere Weise problematisch, denn ein moralisches Empfinden ist bekanntlich von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausgebildet. Der eine mag eine Tat als grausam empfinden, der andere nicht.

Auf den Nagel getroffen haben sowohl Kant als auch Arendt, dass sowohl das Gute als auch das Böse in uns anzutreffen ist und dass es keine leichte Aufgabe ist, das Gute in uns auszubilden. Hoffnungsvoll sind sie beide. Zu idealistisch aber möglicherweise auch. Unabhängig davon scheint mir der Appell, nie aufzuhören, Personen zu werden, wichtig. Wir sollten nie aufhören, von unserer Vernunft Gebrauch zu machen. Genauso wenig sollten wir aufhören, auf moralische Gefühle in uns zu achten, denn wenn wir dies tun, hören wir eigentlich nicht nur auf, Personen zu sein, sondern auch, Mensch zu sein.

Arendt, Hannah: Eichmann und der Kategorische Imperativ

Augstein, Franziska: Taten und Täter, Nachwort zu Hannah Arendt: Über das Böse

Jochen von Lang: Das Eichmann-Protokoll

Kant, Immanuel: Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten: oder über das radikale Böse in der menschlichen Natur

Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

Voltaire: Vom Guten und Üblen in physischer und moralischer Hinsicht

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Lea Ransbach

war Praktikantin in Château d'Orion. Sie hat an der Justus-Liebig-Universität Gießen Französisch und Philosophie studiert und bereitet derzeit ihre Promotion vor.

Für ihre PhiLea-Kolumne auf unserem Blog setzt sie sich regelmäßig mit bedeutenden philosophischen Fragestellungen, Perspektiven und Persönlichkeiten auseinander.