Ganz anders denken - oder: Chinesisch lernen, um Platon zu verstehen

Blicke nach vorne:

Die Denkwoche „Einander verstehen -Nachdenken über interkulturelle Begegnung“ 26.7. - 1.8.2020: 

 

Ganz anders denken - oder: Chinesisch lernen, um Platon zu verstehen

 

Ein Bonmot von und über François Jullien

 

Eigentlich passt das Bonmot: „Ich musste Chinesisch lernen, um Platon zu verstehen“, wunderbar zur Idee der Denkwochen auf Château d’Orion. Nämlich im freien Diskurs tatsächlich aus den gewohnten Bahnen herauszukommen und neue Ideen zu wagen - und das nach Möglichkeit im Austausch zwischen ausgeprägten Kulturen und Denkstilen.

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Eine Ahnung davon, dass interkulturelle Begegnung mehr ist, als Höflichkeits- und Benimmregeln zu kennen und zu beachten, gewinnen Sie sofort: 

Versuchen Sie nur einmal deutsche Wörter wie „Abendbrot“, „Feierabend“ oder „Heimat“ ins Englische und Französische zu übersetzen. Zu „Feierabend“ bietet Ihnen der Google-Translator als französische Entsprechungen: „temps de fermeture“, zu „Abendbrot“: „souper“ oder „dîner“, zu „Heimat“: „maison“, „patrie“ oder „ville natale“. Vergleichen Sie, was in den französischen Übersetzungen so mitschwingt, dann merken Sie sofort: Dieses entspricht so gar nicht den Mitschwingungen der deutschen Ausdrücke. Gehen Sie dem vertieft durch Recherche in einem wissenschaftlichen Wörterbuch nach, wird Ihr Unbehagen noch wachsen. Jede Übersetzung belichtet einige Teilaspekte des Gemeinten überdeutlich - während andere unterbelichtet bleiben. Schon bei der Übersetzung einzelner, recht gebräuchlicher Wörter und Konzepte merken Sie, wie unterschiedlich diese beiden benachbarten Sprachen aus derselben indoeuropäischen Sprachfamilie „ticken“.

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Ihre Ahnung wird sich verstärken, wenn Sie sich klar machen: Eine Sprache wie das Chinesische (vor allem die Sprache der klassischen chinesischen Denker) kennt keine Konjugationen mit Personen-, Zeit- oder Modus-Signalen, sie operiert also nicht mit dem Verb als Hauptbedeutungsträger indoeuropäischer Sprachen, um Aussagen zu treffen und miteinander zu verknüpfen. Folglich ist einer der Ur-Väter westlichen Philosophierens, der Grieche Platon aus dem 5./4. Jahrhundert v. Chr., ins Chinesische kaum übersetzbar. 

Im Umkehrschluss: Sobald Ihnen klar ist, dass chinesische Kommunikation im wesentlichen auf der Aneinanderreihung von Bildern beruht und dabei aus der gegenseitigen Kontextualisierung dieser Bilder so etwas wie „Sinn“ oder „Bedeutung“ entsteht, schauen Sie ganz anders auf Platons (oder anderer „westlicher“ Philosophen) Texte. Denn Sie nehmen jetzt die Sinn-Entwicklung durch die Verwendung von Verben, Tempus- und Modus-Signalen u.a.m. anders wahr. 

Ins Allgemeine gehoben: Sie haben erfasst, dass die Kultur, in der Sie sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit bewegen, ebenfalls nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten „tickt“. Sie haben etwas erfasst, worüber Sie vermutlich noch nie gesprochen oder nachgedacht haben.

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Eine solche Erfahrung hat der französische Philosoph und Sinologe François Jullien (* 1951) zu einem Leitmotiv seines Forschens und Publizierens gemacht - und natürlich gemerkt, dass europäische und chinesische „Philosophien“ nicht so ohne weiteres gegeneinander übersetzbar sind. Schon die Frage, ob klassisches chinesisches Denken, das in Europa auch als Philosophie etikettiert wird, wirklich vergleichbar „ticken“ kann wie europäisches Philosophieren, könne man nicht einfach mit „Ja“ beantworten. Mit der Erfahrung seiner China-, Taiwan- und Japan-Aufenthalte hat Jullien einen neuen Blick auf die Denkweisen und philosophischen Grundkategorien gewonnen, mit denen er in Frankreich aufgewachsen war. 

Deswegen: Chinesisch lernen, um Platon zu verstehen.

In verschiedenen Büchern hat Jullien in den letzten 25 Jahren diese Konsequenzen ausgelotet: mit Blick auf Kunst, auf Philosophie und zuletzt auch auf die von politisch interessierter Seite betriebenen Diskurse in Sachen kultureller Identität. Zuletzt erschien von ihm in Deutschland „Warum es keine kulturelle Identität geben kann?“

Selbst-Verstehen und Fremd-Verstehen geraten in Bewegung, wenn man sich auf Julliens Zugriff einlässt: Das ist eine gute Voraussetzung, um in interkulturelle Situationen hineingehen zu können - sei es im Geschäftsleben, sei es auf Privatreisen, sei es in multikulturell zusammengesetzten Teams.

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Jullien wird eine zentrale Figur in dieser sommerlichen Denkwoche sein: Er öffnet unsere Sensibilität und Vorstellungskraft dafür, was es heißen kann, ganz anders zu denken.

Weitere Figuren, die ich für Sie in den nächsten Blogs zur Denkwoche „Einander verstehen - Nachdenken über interkulturelle Begegnung“ skizzieren werde, sind der karibisch-französische Literat Édouard Glissant unter der Motto „Dem Versteckten nachspüren“ und der deutsche Islamwissenschaftler Thomas Bauer unter dem Motto „Ambivalenzen stehen lassen“. 

Je nach Ihrem Interesse können in dieser Denkwoche auch weitere Autoren wie Homi Babha (der „Dritte Raum“), Andreas Reckwitz („Hyper-Kultur“) und Frank Griffel („Ambiguitätstoleranz“) zur Sprache kommen. Alternativ biete ich Ihnen einige Übungen zur praktischen Anwendung interkulturellen Verstehens an - z.B. zu direkter und indirekter Kommunikationsweise, zum Verhältnis zu Hierarchien und Statusunterschieden, zu Hintergrundhaltungen im Umgang mit Zeit und Absprachen.

Jedenfalls freut sich auf Sie auf Château d’Orion mit Pyrenäenblick vom So., 26.7. - Sa., 1.8.2020.

 

Dr. Friedemann Scriba

www.scriba.berlin